Berlin (pm) Nach Berichten von Mitarbeitern dreier Krankenhäuser im Gouvernement Damaskus, die von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen unterstützt werden, wurden dort am vergangenen Mittwochmorgen in einem Zeitraum von weniger als drei Stunden etwa 3.600 Patienten mit neurotoxischen Symptomen eingeliefert. 355 von ihnen sind nach Angaben der Krankenhausmitarbeiter gestorben.
Seit 2012 hat Ärzte ohne Grenzen eine umfassende und verlässliche Zusammenarbeit mit medizinischen Netzwerken, Krankenhäusern und improvisierten Kliniken im Gouvernement Damaskus aufgebaut und Medikamente, medizinische Ausrüstung und technische Geräte dorthin geschickt. Wegen erheblicher Sicherheitsrisiken konnten Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen diese Einrichtungen bislang nicht selbst aufsuchen.
„Medizinisches Personal, das in diesen Einrichtungen arbeitet, hat Mitarbeitern von Ärzte ohne Grenzen detaillierte Informationen über eine große Zahl von Patienten mit Symptomen wie Krämpfen, übermäßiger Speichelbildung, stark verengten Pupillen, verschwommenem Blick und Atemnot zukommen lassen", sagt Dr. Bart Janssens, Leiter der Projektabteilung von Ärzte ohne Grenzen in Brüssel.
Die Patienten wurden mit Atropin behandelt, einem Medikament, das bei neurotoxischen Symptomen verwendet wird. Ärzte ohne Grenzen hatte die Krankenhäuser in den vergangenen Monaten vorsorglich damit ausgestattet. Da das Medikament nun aufgebraucht ist, versucht die Organisation, den Vorrat wieder aufzufüllen und zusätzliches medizinisches Material zu liefern.
„Ärzte ohne Grenzen kann weder die Ursachen dieser Symptome nach wissenschaftlichen Kriterien bestimmen noch ermitteln, wer für einen möglichen Angriff verantwortlich ist“, erklärt Janssens. „Doch die beschriebenen Symptome der Patienten zusammen mit dem epidemiologischen Muster der Ereignisse – ein massiver Zustrom von Patienten in kurzer Zeit, der Aufenthaltsort der Patienten vor der Einlieferung, die Kontaminierung von medizinischem Personal und Ersthelfern – deuten stark auf einen massenhaften Kontakt mit einem neurotoxischen Stoff hin. Das könnte auf eine Verletzung des humanitären Völkerrechts hindeuten, das den Gebrauch von chemischen und biologischen Waffen komplett verbietet.“
Zusätzlich zu den 1.600 Ampullen mit Atropin, die Ärzte ohne Grenzen den Krankenhäusern bislang zur Verfügung gestellt hatte, hat die Organisation nun 7.000 weitere Ampullen für Gesundheitseinrichtungen in dem Gebiet auf den Weg gebracht. Die Behandlung von Patienten mit neurotoxischen Symptomen wird nun in alle medizinischen Programme von Ärzte ohne Grenzen in Syrien integriert.
„Ärzte ohne Grenzen hofft, dass unabhängige Ermittler sofortigen Zugang bekommen, um herauszufinden, was passiert ist“, erklärt Christopher Stokes, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen in Belgien. „Die humanitäre Situation in Syrien ist katastrophal – sie ist gekennzeichnet durch extreme Gewalt, Vertreibung und die absichtliche Zerstörung medizinischer Einrichtungen. Bei solch deutlichen Verletzungen des humanitären Völkerrechts können humanitäre Organisationen nicht effizient Hilfe leisten.“
Ärzte ohne Grenzen leistet in Syrien auf zwei verschiedene Arten medizinische Hilfe. Zum einen betreiben internationale und syrische Mitarbeiter der Organisation sechs Krankenhäuser und vier Gesundheitszentren im Norden Syriens selbst. In Gebieten, in die Ärzte ohne Grenzen wegen mangelnder Sicherheit oder verwehrtem Zugang keine eigenen Teams schicken kann, hat die Organisation in den vergangenen zwei Jahren ein Programm aufgebaut und ausgeweitet, das syrische medizinische Netzwerke, Krankenhäuser und Behelfskliniken mit Medikamenten, medizinischem Material und technischer Unterstützung versorgt. Auf diese Weise hat Ärzte ohne Grenzen bislang 27 Krankenhäuser und 56 improvisierte Behandlungseinrichtungen in ganz Syrien unterstützt.
Bis Ende Juni 2013 haben Teams von Ärzte ohne Grenzen in Syrien mehr als 55.000 Konsultationen und 2.800 Operationen durchgeführt und mehr als 1.000 Geburten begleitet. Mitarbeiter der Organisation haben darüber hinaus mehr als 140.000 syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern behandelt.